DER SEILTÄNZER
Was, wenn Du schliefest?
Und was, wenn
in Deinem Schlafe
Du träumtest?
Und was, wenn
in Deinem Traum
zum Himmel Du gingst
und dort pflücktest
eine seltsame, wie
wunderschöne Blume?
Und was, wenn
Du erwachtest
mit dieser Blume
in Deiner Hand?
(Samuel Taylor Coleridge)
„Was, wenn?“ Was, wenn wir das, wovon wir träumen, am nächsten Morgen in unserer Hand hielten? So die Frage.
Sind wir doch alle Seiltänzer – wir tanzen zwischen „Blicken“ und „Schauen“, zwischen „Himmel“ und „Erde“, zwischen „Gut“ und „Übel“, zwischen dem Gefühl des Aufgehobenseins und dem Gefühl von Verlorenheit. Wir tanzen zwischen „Traum“ und „Wirklichkeit“, zwischen dem, was wir eine „geistige Welt“ nennen und einer physischen Realität, die wir sehen, riechen, schmecken, anfassen können. Wir tanzen zwischen dem Messbaren und dem Unermesslichen. Wir tanzen zwischen dem, der wir sein wollen und dem, der wir sein können, zwischen dem, was wir uns wünschen und dem, was uns als nicht wünschenswert erscheint. Wir tanzen zwischen unseren Naturen, der Liebe und der Furcht, zwischen „unserem Zuhause“ und „weit entlegenen Orten irgendwo“, zwischen Gesundheit und dem Gefühl von Krankheit, zwischen dem „klaren Signal“ und der Störung. Manchmal haben wir das Gefühl, alles und alle umarmen zu können und manchmal wollen wir alles nur in Trümmer legen. Gegenläufige Bewegungen, die sich in die Quere kommen, die über Kreuz liegen, sich kreuzen - und deren Gegenläufigkeit uns so oft verwirrt und verzweifeln lässt.
Ein Kreuz: Ich kann dies alles fassen in dem uralten Symbol des Kreuzes, das soviel älter ist als bloß 2000 Jahre. Diese Chiffre, die tief in mir eingegraben liegt und die mich oft so unbehaglich fühlen ließ. Es ist kein Zufall, dass dieses Kreuz dem Bild eines Tänzers auf einem Seil mit seinen ausgestreckten Armen- , oder einer Stange zum Balancieren, ähnelt. Der am Kreuz – ein Tänzer. Das Kreuz kann als Bild für die Kreuzung – also für die Verbindung – von „Himmel“ und „Erde“ in uns verstanden werden. Wir sind diese Kreuzung, sie ist in uns. Wir sind der Seiltänzer. Wir kennen die Momente voller Enthusiasmus ebenso wie die Momente des Schmerzes. All diese Qualitäten, in allen Abstufungen, begegnen sich in uns, kreuzen sich dort. Und gehalten wird ein solches Kreuz am innersten Kreuzungspunkt, dem Punkt höchster Stabilität, dort, wo sich die „Balken“ treffen – ganz so, wie der Seiltänzer den Ursprung seiner Stabilität auf dem Seil ganz in seiner Mitte, am zentralen Punkt seiner Brust – in sich – findet. Wäre er dort immer und absolut zentriert, er würde niemals abstürzen; er würde nicht einmal schwanken. Doch das ist selten wirklich möglich. Und so muss er schwanken zwischen links und rechts, zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“, weiblich und männlich, dunkel und hell, zwischen yin und yang. Es macht ihn aus, es ist seine Natur. Er, der Seiltänzer, dieser Mensch ist die Verbindung – er stellt sie dar und er stellt sie sicher. Und indem er die Verbindung von Himmel und Erde ist, zwischen denen er balanciert, kann er erschaffen. Sich, als denjenigen, der er sein will und alles um sich herum. Der Himmel kann als das Ungreifbare verstanden werden, das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Benennbare – das Tao, das nicht benannt werden kann. Er erscheint somit als die „linke Seite“, vom Seiltänzer aus gesehen – das Innere. Er kann verstanden werden als der Traum; er kann verstanden werden als das „Wissen“.
Die „Erde“ kann verstanden werden als das Reale, als die Form, als das Sichtbare und Benennbare – das Tao Te King spricht von den „10.000 Dingen“. Sie erscheint als die „rechte Seite“, als die äußere, sich zeigende Wirklichkeit, in die hinein wir am Morgen aufwachen; sie kann verstanden werden als die „Erfahrung“. Wissen und Erfahrung bedingen sich gegenseitig – keines kann ohne das andere sein, denn ein Wissen nützt nichts ohne die Erfahrung, die das Wissen erlebbar macht. Und eine Erfahrung nützt nichts, wenn sie kein Wissen stützt und mehrt.
Und wir, die Seiltänzer, sind die Verbindung, die Vereinigung. Unser Ziel ist es, Wissen und Erfahrung miteinander in Einklang zu bringen, indem wir die Balance halten, oder indem wir sie wiederherstellen, sollten wir sie einmal vorübergehend verloren haben.
Und wenn wir dies immer tiefer erkennen, wenn wir uns bewusst werden, dass wir diese Seiltänzer sind, dann beginnen wir zu verstehen, dass wir das-, dass wir alles, was wir uns vorstellen– also das, wovon wir „träumen“ können – dass wir das auch erschaffen können; durch die Verbindung beider „Welten“, die wir sind. Wir würden beginnen zu verstehen, dass wir die Blume, von der wir träumen, tatsächlich am Morgen, in unserer erlebten Wirklichkeit, fassen- und in Händen halten können.
„Was, wenn?“, fragt der Dichter Samuel Taylor Coleridge – was, wenn wir sehen könnten, dass wir die Möglichkeit haben, das, was wir erträumen, Wirklichkeit werden zu lassen, wenn wir uns als der Tänzer auf dem Seil, als der Tänzer zwischen Traum und Wirklichkeit, als Schöpfer und Erschaffer erkennen könnten – wir wären wieder der, der wir einmal waren.
(TFS)